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Das Lateral Release (auch laterales release) führt häufig zu Verunsicherung der Betroffenen bei denen es durchgeführt werden soll oder durchgeführt wurde. Dieser etwas ausführliche Beitrag soll helfen zu verstehen um was es sich dabei handelt und was passiert wenn es durchgeführt wird. Er kann und will jedoch nicht die ärztliche Beratung ersetzen.
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Grundsätzliches zur Biomechanik des Körpers
Der menschliche Körper wird durch ein fein ausgeklügeltes System an Knochen, Muskeln, Sehnen und Bändern bewegt. Es ist logisch, daß sich Knochen nicht alleine bewegen, sie brauchen dazu die Muskeln; diese wiederum benötigen einen festen Halt den sie i.d.R. wiederum an einem Knochen finden.
Jeder Muskel des menschlichen Körpers hat einen Gegenspieler (lat. Antagonist), nur durch das Zusammenspiel beider Muskeln wird eine Bewegung in zwei Richtungen ermöglicht.
Am Beispiel des Ellenbogens:
- den Arm beugen wir mit dem Bizeps (zweiköpfiger Armbeuger-Muskel, Musculus biceps brachii)
- und wir strecken ihn mit seinem Antagonisten dem dreiköpfigen Oberarmmuskel (Streckmuskel, Musculus triceps brachii)
Beuge- und Streckmuskeln können kräftemäßig sehr unterschiedlich ausgeprägt sein, je nachdem wie das normale Belastungsprofil ist oder welcher Beruf bzw. Sport ausgeübt wird.
Am Beispiel ist beim normalen Menschen der Bizeps üblicherweise stärker ausgeprägt, da wir Gegenstände tragen oder Lasten hochheben, während der Strecker weniger belastet wird. Bei einem Boxer oder Kraftsportler der locker ein paar Dutzend Liegestütze absolviert ist das sicherlich anders.
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Situation beim großen Zeh
Dieser soll einerseits mit den anderen Zehen einen federnden engen Hohlraum bilden, um in der Lage zu sein, das Körpergewicht beim Auftreten weich abzufedern und auch beim Gehen Druck für die Vorwärtsbewegung aufzubauen. Der Muskel der dafür zuständig ist, ist der "Großzehenheranführer', der Musculus adductor hallucis ist einer der Skelettmuskeln auf der Fußsohle. Er ist V-förmig und besteht aus zwei Köpfen (Bild 1):
* Caput transversum (querer Kopf)
* Caput obliquum (schräger Kopf)
Andererseits soll der große Zeh im Verbund mit seinen 4 Kollegen für einen größtmöglichen sicheren Stand sorgen, dieses wird über eine größtmögliche Auflagefläche erreicht indem man die Zehen spreizt. Der Gegenspieler des oben genannten Musculus adductor hallucis ist der Großzehenspreizer, der Musculus abductor hallucis, der dafür zuständig ist den Zeh abzuspreizen (Bild 2). Dieser Muskel bildet den medialen Rand des Fußes (medial: in der Mitte liegend, also am inneren Rand).
Das Zusammenspiel dieser beiden Muskeln führt den großen Zeh mit den anderen zusammen, zieht ihn beim Zehenspreizen von den anderen weg und hält den großen Zeh normalerweise in seiner längs ausgestreckten Haltung.
Bild 1: Musculus adductor hallucis - Bild 2: Musculus abductor hallucis. Die Zugrichtung am großen Zeh ist mit blauem Pfeil markiert.


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Situation beim Hallux valgus
Im Gegensatz zum Daumen ist der 'Großzehenspreizer' (abductor hallucis) am großen Zeh häufig unterentwickelt und nicht stark genug, um dem starken 'Großzehenheranführer' der ja sogar aus 2 Muskeln besteht, kraftvoll entgegenzuwirken. Das hat vielerlei Ursachen die u.A. (aber nicht nur) auch in der Schuhmode, Vererbung und im falschen Gehen zu suchen sind.
Der Effekt ist jedoch wesentlich für die Ausprägung des Hallux valgus: Der 'Großzehenheranführer' zieht den großen Zeh in Richtung kleiner Zeh, der 'Großzehenspreizer' hält nicht genügend dagegen - und schon wird der Hallux valgus noch verstärkt.
Bild 3: Wirkung des 'Großzehenheranführer' bei schwachem 'Großzehenspreizer' (überzeichnete Darstellung)

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Was wird beim Lateralen Release gemacht?
Hierbei wird die Sehne die den 'Großzehenheranführer' (adductor hallucis) am Zeh hält operativ durchtrennt (durchschnitten):
Bild 4: Laterales Release, im Bild grün markiert

Da der 'Großzehenheranführer', der Adductor nun keinen Zug mehr auf den großen Zeh ausübt, wirkt nur noch die Kraft des 'Großzehenspreizer's', der ja (wie erwähnt) deutlich schwächer ist. Jedoch wird dadurch der große Zeh eher in seiner Längsrichtung stabilisiert.
Das jetzt lose Ende des 'Großzehenheranführer's'
a) lässt man entweder einfach so lose wie es ist und es verwächst irgendwie mit dem umgebenden Gewebe.
b) oder man befestigt es weiter unten am Zehenknochen wieder. Damit kann der 'Großzehenheranführer' einerseits wieder aktiv sein aber andererseits mit geringerer Zugkraft auf den Zehenknochen wirken. Diese Methode wird auch Sehnenverlagerung genannt.
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Einordnung
Mit dem Lateralen Release soll der Erfolg der Hallux valgus Operation schnell und dauerhaft sichergestellt werden; es soll verhindert werden daß sich ein Rezidiv - ein Rückfall - bildet. Meist wird es im Zuge einer Hallux Operation quasi 'nebenbei' miterledigt, da es ein einfacher Schnitt ist. Eine Sehnenverlagerung hingegen ist komplizierter und dauert auch länger.
Die Methode des Lateralen Release wird zwar häufig angewandt, ist aber nicht unumstritten. Wesentliche Kritikpunkte sind die unbekannten langfristigen Auswirkungen.
Diese können sein:
- Bildung eines Spreizfußes oder Verstärkung eines bestehenden Spreizfusses durch ungenügende Querspannung und Einsinken des vorderen Quergewölbes
- Verbreiterung des Vorfußes
- Kippen des großen Zeh's in die andere Richtung, in eine Hallux varus Position
- Notwendigkeit neuerlicher Korrektur-Operationen
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Empfehlungen
Es sind Fälle bekannt, bei denen dem Patienten erst nach der Operation mitgeteilt wurde, daß das Laterale Release durchgeführt wurde; das darf nicht sein.
Jede Operation muss Gegenstand einer ärztlichen Untersuchung und Beratung sein; da das Laterale Release Teil der Operation ist, muss dieser Eingriff dem Patienten erläutert werden. Falls diese Erläuterung nicht geschieht, sollte der Betroffene seinen Arzt von sich aus darauf ansprechen. Die Beratung sollte auch Alternativen aufzeigen wie die Sehnenverlagerung, die Vorteile und Nachteile aufzeigen und auch die langfristigen Wirkungen erläutern.
Es ist dann Sache und Verantwortung des Patienten diesem Eingriff zuzustimmen oder nicht.
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Was kann man tun um den Großzehenspreizer (den Musculus abductor hallucis) zu stärken
Durch die Einengung der Schuhe kann der Großzehenspreizer seine Aufgabe faktisch nicht ausüben und verkümmert daher. Barfuß laufen so oft als möglich - in der Wohnung und im Freien - ist sicher hilfreich auch für das gesamte Fußgewölbe.
Übungen zur Kräftigung dieses Muskels sind natürlich auch sehr hilfreich aber nicht einfach durchzuführen. Wenn man nachhaltige Erfolge erzielen will, muss man jedoch konsequent und kontinuierlich daran arbeiten. Allerdings sollte man auch bei intensiven Übungen keine Wunder erwarten.
Hier gibt es eine Trainingsanleitung die dazu benutzt werden kann: http://www.hallux-forum.de/viewtopic.php?t=464
Besser ist jedoch, sich von einem Physiotherapeuten entsprechende Übungen zeigen zu lassen und unter seiner (oder ihrer) Anleitung zu lernen. Das ist zwar aufwendig und kostet auch ein paar Euro Gebühren die sich aber auf jeden Fall lohnen (und eventuell bei Überweisung von der Kasse bezahlt werden).
Derartige Übungen können auch vor einer eventuell absehbaren Operation angewandt werden, um diese hinauszuzögern oder unter günstigen Bedingungen auch ganz zu vermeiden.
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Ergänzende Kommentare
Ich hatte noch Herrn Dr. Janusz Pieczykolan, Köln, um seine medizinischen Kommentare gebeten, die er dankenswerter Weise dem Forum zukommen ließ:
"Das lateral release wird sehr selten (fast nie) als alleinige Procedur durchgeführt. Es wird in der Regel mit einer Umstellung des Knochens (Osteotomie) zusammen angewendet und meistens am Anfang der Operation durchgeführt, weil erst nach der Verbesserung der Gelenkfehlstellung die Ausmaß der Knochenverschiebung, Drehung etc. beurteilt werden kann. Das laterale release umfasst auch neben Durchtrennung der Adduktorsehne das Einkerben der kleinzehwärts liegenden Gelenkkapsel des Großzehgrundgelenkes und zwar knapp über der oberen Kante des lateralen Sesambeines, entlang des gesamten MFK-I-Köpfchens.
Dadurch erhält die Gelenkapsel die Möglichkeit, bei einer anschließenden Raffung (mit einer Naht) der medialen Strukturen, wieder in die ursprüngliche, anatomisch korrekte Position zurückgebracht zu werden. Man spricht von der "Reposition der Sesambeine oder des Sesambeinkomplexes". Das ist einer der intraoperativen Kriterien, nach welchen der Fußchirurg den etwaigen Erfolg der durchgeführten Maßnahmen mit Hilfe der Röntgendurchleuchtung beurteilt. Aus der Sicht des Fußchirurgen ist also das laterale release i.d.R. ein Bestandteil der komplexen Procedur, die dreidimensionale Korrektur der Stellung der Großzehe beim Hallux valgus umfasst. Da aber Knochenumstellungen auch oft zu Entspannung der Weichteilstrukturen führen, wird kontrovers diskutiert, ob eine einfache Durchtrennung der Adduktorsehne (sie hat ja danach keine Funktion mehr) in solchen Fällen tatsächlich notwendig ist. Grundsätzlich gilt heute alleinige Weichteilkorrektur bei den meisten Hallux valgus - Deformitäten als ungenügend.
Die gezeigten Übungen sind sehr gut und können vielen Patienten, vor allem beim Vorliegen einer sog. "Transfermetatarsalgie" helfen. Das Problem, was viele Patienten mit Hallux valgus haben, ist die Tatsache, dass der 1. Strahl ungenügend belastet wird. Dadurch vestärkt (verschiebt) sich die Belastung auf die Nachbarstrahlen, vor allem Köpfchen der Mittelfußknochen II und III. Das führt zu Schmerzen durch Überlastung, manchmal sogar Gelenkentzündungen und Gelenkkapselrissen. In einer Frühstadium der Deformität, können mit diesen Übungen, die nun den 1.Mittelfußknochen Richtung Boden (plantarwärts) bewegen und besser stabilisieren sollen, gute Erfolge und Linderung der Beschwerden erzielt werden. Allerdings sollte man sich davon keine wesentliche Korrektur der Großzehenstellung bei schon vorhandenem Hallux valgus versprechen.
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Auch ein Danke an Petra Wagner, Eystrup, für folgende ergänzenden Kommentare aus Sicht des Physiotherapeuten:
"Man darf die muskuläre Komponente am Fuß nicht überbewerten, zumeist ist die Fußfehlform anlagebedingt, auch durch schwaches Bindegewebe und da richtet man mit Übungen nichts Zufriedenstellendes aus. Hinzu kommt, dass 90 % der Patienten diese Übung nicht in ausreichender Dauer und Zeitraum durchführen.
Ich bin immer dafür, dass ein Patient weiß, was mit ihm gemacht wird aber manche Information verursacht unnötig Angst und verunsichert unnötigerweise. Diese Trainingsanleitung sehe ich daher eher kritisch, da das Ergebnis u.a. sehr enttäuschend für den Übenden ist.
Andererseits schadet es natürlich nichts, wenn der behandelnde Arzt merkt, dass er es mit einem informierten Patienten zu tun hat, da diese erfahrungsgemäß besser behandelt werden!
Lange Rede, kurzer Sinn: aus meiner Sicht wird die Wirkung des Abductors als zu groß dargestellt, einen 'anständigen' Hallux valgus mit Spreizfuß kann man damit nicht verhindern."
Petra Wagner Krankengymnastikpraxis
Physiotherapie
Am Blanken Moor 20
27324 Eystrup
Tel. (0 42 54) 26 15
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